« Mit Nettsein kam man noch nie weit » – Interview mit Annette Niesyto, der Gleichstellungsbeauftragten der Stadt Karlsruhe

Das war super, Annette!

Wie steht’s um die Gleichberechtigung?
Badische Zeitung – 20.09.2018
FREIBURG. In Karlsruhe haben sich Anfang dieser Woche etwa 400 Frauen zur Bundeskonferenz der kommunalen Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten getroffen. Ines Alender sprach mit der Gleichstellungsbeauftragten der Stadt Karlsruhe, Annette Niesyto, über die Konferenz,…

BZ: Frau Niesyto, wir haben in Deutschland eine Bundeskanzlerin, das Verfassungsgericht ist mit sieben Richterinnen fast paritätisch besetzt und immer mehr junge Eltern teilen sich die Familienarbeit untereinander auf. Wofür brauchen wir noch Gleichstellungsbeauftragte?
Niesyto: Das Verfassungsgericht ist eine positive Ausnahme. Es gibt aber immer noch Bereiche mit deutlichen Schieflagen. Wenn Sie auf Führungspositionen insgesamt schauen, sind es nur ein Viertel Frauen, wenn Sie auf die politische Repräsentanz im Bundestag schauen, sind es nur 31 Prozent, das ist ein Niveau von vor 20 Jahren. In wichtigen Bereichen haben wir minimale Fortschritte erreicht, beim Verdienstunterschied zum Beispiel. Bei der Gewalt gegen Frauen gibt es dagegen überhaupt keinen Rückgang, außerdem hat sich bei den alten Themen Altersarmut und Aufteilung der unbezahlten Sorgearbeit wenig verändert.
BZ: Das waren alles schon Themen, als Sie 1990 Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Karlsruhe wurden. Das ist fast 30 Jahre her.
Niesyto: Genau. An den großen Themen hat sich wenig getan. Als ich anfing, haben viele gesagt: Das wächst sich alles aus. Was sich aber heute zeigt, ist, dass die Diskrepanz zwischen Auftrag und Wirklichkeit gar nicht so viel kleiner geworden ist. Bundesfamilienministerin Franziska Giffey hat auf der Konferenz gesagt, der Fortschritt sei eine Schnecke. Wir wollen der Schnecke aber Flügel verleihen.
BZ: Gibt es denn außer dem minimalen Rückgang beim Verdienstunterschied noch weitere Fortschritte?
Niesyto: Es gibt einige. Für die Stadt Karlsruhe kann ich beispielsweise sagen, dass vieles besser geworden ist, beim Personal haben wir wirklich viel erreicht. In Baden-Württemberg sind wir heute mehr Gleichstellungsbeauftragte als damals, seit 2016 gibt es das Chancengleichheitsgesetz. Leider haben wir bundesweit keine einheitlichen Rahmenbedingungen für die Arbeit der Gleichstellungsbeauftragten – das bräuchten wir aber, um bei dem Thema voranzukommen.

http://www.frauenbeauftragte.de: Themen wie Sorgearbeit, Armut und Wohnungslosigkeit, Gewalt und Sexismus, Antirassismus, Schwangerschaftsabbruch, Digitalisierung, ländlicher Raum, Strukturen und Strategien kommunaler Gleichstellungspolitik, etc. wurden diskutiert und in einer Karlsruher Erklärung manifestiert. Eine lautstarke Frauendemo vor das Bundesverfassungsgericht brachte die Forderungen effektvoll an die Öffentlichkeit.


BZ: Laut der Fakten, über die Sie auf der Konferenz gesprochen haben, fängt die Diskriminierung schon ziemlich früh an. Jungen der vierten Klasse bekommen pro Monat durchschnittlich 16,25 Euro Taschengeld, Mädchen nur 11,94 Euro.
Niesyto: Das zeigt, dass sich die Rollenbilder in den Köpfen weniger verändert haben, als wir glauben. Ganz viel läuft unterbewusst auf, die meisten Eltern geben ihrem Sohn ja nicht bewusst mehr Taschengeld. Das heißt, wir müssen auch Einstellungen und Rollenbilder ändern – und das macht es so schwierig.
BZ: Wie könnte das gelingen?
Niesyto: Wir müssen Denkmuster mit kreativen Einfällen aufbrechen. Ich habe in meinem Büro beispielsweise drei Verkehrsschilder stehen: eines mit einer Bauarbeiterin, eines mit zwei Frauen und eines mit einem Mann und einem Kind an der Hand. Wenn Sie heute die Rollenbilder in Schulbüchern analysieren, erschrecken Sie. Max tankt und Karin kauft ein. Das fällt uns nur nicht mehr auf, weil wir daran gewöhnt sind.
BZ: Vor welchen Herausforderungen stehen Gleichstellungsbeauftragte heute?
Niesyto: Wir müssen mit Gegenwind kämpfen. Insbesondere von rechts, aber auch allgemein, gibt es Antifeminismus. Die Wirklichkeit wird sich zurechtgebogen, mittlerweile seien die Männer benachteiligt. Die Fakten sprechen aber eine andere Sprache.
BZ: Sie arbeiten für die Stadt Karlsruhe. Mit welchen Problemen wenden sich heute Frauen im Alltag an Sie?
Niesyto: Es geht um Alltagssorgen, Schulden, Scheidung, oft Gewalt, Beruf und Existenzsicherung. Manchmal auch um Beschwerden gegen städtisches Vorgehen. Beschwerden gegen sexistische Werbung sind gängig. Wenn mal wieder ein blödes Plakat irgendwo hängt, kann es sein, dass unser Büro zwei Tage lahmgelegt ist.
BZ: Wenden sich auch Männer an Sie?
Niesyto: Ja, schon immer ungefähr zehn Prozent oder etwas mehr. Oft geht es um Vereinbarkeitsfragen oder darum, dass Männer ihren Job reduzieren möchten. Manche regen sich über Geschlechterstereotype auf oder über Dinge, die sie mit ihren Töchtern erlebt haben.
BZ: Die Bundeskonferenz der Gleichstellungsbeauftragten hat die « Karlsruher Erklärung » einstimmig verabschiedet. Was verbirgt sich dahinter?
Niesyto: Wir fordern darin ein schlüssiges Gesamtkonzept, das die Ungerechtigkeiten und Fehlentwicklungen zum Nachteil von Frauen beendet. Bund, Länder und Kommunen müssen an einem Strang ziehen. Die Dinge müssen zusammenpassen und sich nicht gegenseitig torpedieren, wie zum Beispiel beim Ehegattensplitting. Eine Bundesstiftung, die im Koalitionsvertrag versprochen wird, soll außerdem die Forschung besser zusammenführen und begleiten.
BZ: Familienministerin Franziska Giffey (SPD) hat auf der Konferenz junge Frauen dazu aufgerufen, sich zu engagieren. Sie sagte: « Mit Nettsein kommt man nicht immer sehr weit. » Müssen Frauen auch 2018 nerven, damit es mit der Gleichberechtigung weiter vorangeht?
Niesyto: Mit Nettsein kam man noch nie weit. Wie sagte Simone de Beauvoir: Frauen, die nichts fordern, bekommen nichts. Aber auch Diplomatie gehört dazu. Frauen müssen das ganze Klavier beherrschen. Nettsein, Diplomatie, Hartnäckigsein. Momentan braucht es vor allem Klarheit und Hartnäckigkeit.

Annette Niesyto (65) ist seit 1990 Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Karlsruhe. Sie ist in Freiburg aufgewachsen. Ende des Monats geht Niesyto in den Ruhestand.
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